Nach Jahren der Übertreibung ist an Europas Tech-Märkten eine neue Realität eingekehrt: Bewertungen sinken, Kapital wird selektiver, Investoren fragen wieder nach Substanz. Was sich wie eine Korrektur anfühlt, ist in Wahrheit eine Normalisierung – und für professionelle VC-Investoren eine dringend nötige Rückkehr zu wirtschaftlicher Bodenhaftung.
In der Hochphase zwischen 2020 und 2022 bestimmten vor allem Storytelling, TAM-Fantasien und aggressive Wachstumsprojektionen das Bewertungsniveau. Selbst pre-revenue Start-ups konnten in Europa Series-A-Runden zu dreistelligen Millionenbewertungen abschliessen – ganz zu schweigen vom US-Markt, der mit Multiples operierte, die mit der Realwirtschaft nur noch am Rande zu tun hatten. Der Druck, zu investieren, war hoch. Ebenso der Herdentrieb.
Heute ist klar: Viele dieser Bewertungen waren nicht tragfähig. Die Kombination aus Zinswende, geopolitischer Unsicherheit und verhaltener Exit-Aussichten hat die Bewertungslogik verschoben. Fundraising dauert länger, Terms werden härter verhandelt, und die einst automatisch mitverkauften Up-Rounds sind zum Auslaufmodell geworden. Der neue Bewertungsrahmen setzt auf nachvollziehbare KPIs – Umsatz, Gross Margin, Kundenbindung, reale Produktivität. Kein Pitch mehr ohne konkreten Plan zur Kapitalnutzung. Kein Deal mehr ohne kritische Hinterfragung der Kostenstruktur.
Für VC-Investoren bedeutet das zunächst weniger Fantasie, aber mehr Qualität. Wer heute in eine frühe Phase einsteigt, muss nicht mehr gegen eine überhitzte Bewertungsspirale ankämpfen. Das ermöglicht strukturiertere Deals, bessere Governance und eine realistische Grundlage für zukünftige Runden. Auch das Alignment mit den Gründern verändert sich. Wer unter realistischen Bedingungen einsteigt, kann nicht nur nachhaltiger begleiten, sondern hat auch mehr Spielraum bei schwierigen Zwischenphasen.
Insbesondere in Europa entstehen daraus neue Chancen. Der Markt wird kleiner, aber fokussierter. Frühphasen-Investoren, die bereit sind, aktiv mitzugestalten, treffen zunehmend auf Gründer, die Substanz über Geschwindigkeit stellen. Es sind Teams, die bereit sind, den schwierigen Weg zu gehen – und die verstanden haben, dass ein seriöser Partner langfristig wertvoller ist als eine schnelle Bewertung auf dem Papier.
Zudem eröffnet sich Raum für neue Modelle. Beispielsweise strukturierte Beteiligungen mit Tranchenlogik, Earn-out-Elementen oder Cap-Matrices, die in Boomzeiten undenkbar gewesen wären, heute aber als Mittel zur Fairness und Risikoabsicherung akzeptiert sind. Investoren, die sich darauf einlassen, erhalten nicht nur bessere Einstiegskonditionen, sondern oft auch mehr Einfluss auf die strategische Ausrichtung.
Nicht zuletzt bringt die neue Bewertungsdisziplin auch Klarheit in der LP-Kommunikation. Fondsmanager, die heute Deals sourcen, können gegenüber ihren Kapitalgebern glaubwürdiger argumentieren. Sie müssen nicht mehr künstlich Exits pushen oder Bewertungen beschönigen – sondern können wieder auf die operativen Fortschritte der Portfoliofirmen verweisen. Das reduziert nicht nur den Druck auf kurzfristige Renditen, sondern stärkt auch das Vertrauen ins Modell Venture Capital an sich.
Unterm Strich zeigt sich: Die neue Bodenhaftung ist keine Bremse – sie ist eine Einladung. Eine Einladung, Venture Capital wieder als das zu sehen, was es ursprünglich war: langfristiges, unternehmerisches Beteiligungskapital mit einem klaren Fokus auf Wertentwicklung.